Teures Dorf

Hampsteads Aussichten

Wer sich einen preiswerten Überblick über London verschaffen will, der muss nach Hampstead Heath. Denn den schönsten Blick auf die Skyline hat man ohne Zweifel von der Kuppe des Parliament Hill aus. Der Blick ist dermaßen schön, dass er gesetzlich vor Verbauung geschützt ist. Vom Parliament Hill herab schweift das Auge über das Panorama der Hochhaus-Cluster in den Docklands hinüber zu St. Paul’s Cathedral, hinter der neuerdings der Shard-Turm an den Wolken kratzt. Mehr muss man eigentlich auch gar nicht sehen von diesen fernen Gegenden, denn der Londoner Nordwesten, in dem Hampstead Heath liegt, bietet mehr als genug Abwechslung.
Hampstead hat sich den Charakter eines – sehr teuren – Dorfes bewahrt, am Camden Market weiter südlich herrscht hingegen trotz der Touristenströme noch immer ein bohemehafteres Flair. Selbst in Gegenden wie Cricklewood, deren Reihen von Telefon- und Falafel-Shops auf den ersten Blick wenig Liebliches bieten, kann man literarische Reisen unternehmen: Zwischen Willesden und Brent Cross spielt Zadie Smiths wunderbarer Roman „Zähne zeigen“. Auf vielen Sichtachsen erhascht man einen Blick auf den imposanten Bogen des Wembley-Stadions.
Weiter westlich, in White City, liegt das Television Centre, Sendezentrale der British Broadcasting Corporation. Neuerdings passiert man sie mit einer gewissen Wehmut: Die Gebäude stehen zum Verkauf, Radio- und Fernsehstudios werden in den nächsten Jahren umziehen. Das riesige Westfield Shopping Centre nebenan ist kein wirklich adäquater Ersatz für den Wegzug dieser Institution.

Alexander Menden

Im Osten wohnt die Lässigkeit

Hier in London am spannendsten. Wo früher Armut herrschte, überbieten sich heute die Hipster an Coolness

Der Osten Londons war lange vor allem für seine extreme Armut bekannt. Als der Schriftsteller Jack London sich Anfang des 20. Jahrhunderts für seinen Tatsachenbericht „The people of the Abyss“ („Die Menschen des Abgrunds“) aufmachte, um einige Monate im Osten der Stadt zu wohnen, warnten ihn Freunde: Dort könne man nicht leben, es sei unmenschlich. Reich ist die Gegend noch immer nicht, aber sie hat sich grundlegend gewandelt. In Shoreditch werden die Straßen von Hipstern bevölkert, die einander in Coolness zu überbieten suchen. In Hackney Wick herrscht die größte Dichte an Künstlern in Europa. Das liegt auch daran, dass im Osten die Mieten noch nicht ganz so irrsinnig hoch sind wie im Rest der Stadt. An der Old Street liegt der sogenannte Silicon Roundabout, der so heißt, weil sich dort in kleinem Umkreis Hunderte Internet-Start-Ups angesiedelt haben. Galerien eröffnen und sind wenige Tage später wieder verschwunden. Unzählige Restaurants bieten Essen aus jedem Winkel der Welt an. Unmittelbar neben Hackney Wick, in Stratford, ist der Olympische Park entstanden. Der Park und die Bauten sollen nach den Spielen von den Bewohnern des Ostens genutzt werden können. Ken Livingstone, der Londons Bürgermeister war, als die Stadt sich erfolgreich um die Spiele bewarb, sagte einmal, dass ihn der Sport nicht weiter interessiere. Ihm sei es allein darum gegangen, Geld in die Entwicklung der Infrastruktur des Ostens investieren zu können.
Im Osten ist London derzeit mit Abstand am spannendsten. Aber natürlich bedeutet der Zuzug der Künstler und IT-Leute auch, dass die Gegend allmählich salonfähig wird. Und das wiederum bedeutet: Die Mieten steigen. Unaufhaltsam.

Christian Zaschke

Bunte Docks

Kulturelle Vielfalt im Süden

Es war die Gegend, die die Reichen in früheren Zeiten mieden: Stadtteile wie Southwark, Vauxhall und Brixton südlich der Themse waren typische Arbeiter- und Industriequartiere: laut und lärmend, wo den Fat Cats, den wohlhabenden Kaufleuten und Aristokraten, die Angst vor Überfällen ins Gesicht geschrieben stand. In Southwark gab es zudem die berüchtigten Ledergerbereien, in denen Tausende Arbeiter unter gesundheitsschädlichen Bedingungen schuften mussten. Jobs in den nahen Lagerhäusern der Docklands waren kaum minder gefährlich. Doch nach einem zwölfstündigen Arbeitstag wurde eben auch noch ein Pint Bier getrunken. Davon zeugt noch heute eine lebendige Pub-Szene, am Wochenende voller Partyvolk.
Die erste große sozialpolitische Veränderung erfuhr Londons Süden in den 1950er und 1960er Jahren. Einwanderer aus der Karibik ließen sich vorzugsweise in Brixton nieder. Die Wohnungen in den alten viktorianischen Häusern waren zwar heruntergekommen, die Mieten aber erschwinglich. So entwickelte sich hier jene heute für London typische multikulturelle Lebensart.
In den 1980er Jahren verschwanden dann auch die letzten traditionellen Industriebetriebe aus Southwark. Die Docklands erfuhren ihre Mutation zu schicken Designer-Lofts und Luxus-Apartments. Später zog eine junge Generation von Start-up-Unternehmern in leer stehende Garagen und Lagerhallen ein. So bieten die Stadtteile im Süden Londons heute eine soziale und kulturelle Vielfalt wie kaum sonst ein Stadtteil. Das bedingt aber auch, dass schäbige Sozialbauten aus den 1960er und 1970er Jahren häufig unmittelbar neben Luxusquartieren für Boni-Banker stehen. Kein Zufall, dass Stadtteile wie Clapham und Peckham, in denen sich die Probleme der Gentrifizierung besonders deutlich abzeichnen, im vergangenen Jahr auch Zentren der Jugend-Revolte waren.

Andreas Oldag

Besuch auf einem anderen Stern

Exklusiver, hübscher, absurder: Im unerschwinglichen Südwesten der Stadt werden selbst Londoner zu staunenden Touristen

Einst beherrschten Rocker, Skinheads und Punks die Szene an der King’s Road, doch heute swingt Londons Südwesten nicht mehr – er stolziert eher elegant vor sich hin, mit einem überlegenen Lächeln auf den Lippen. Nirgends sind die Geschäfte teurer, die Bars und Galerien exklusiver, die Menschen hübscher, die Grundstückspreise absurder. Im Hyde Park One, einem ultraluxuriösen Komplex gegenüber dem Harvey-Nichols-Kaufhaus, hat ein Scheich vor fünf Jahren 100 Millionen Pfund gezahlt, das waren umgerechnet 53 000 Euro – pro Quadratmeter.
Globalisierungsgewinner und britisches Old Money haben ganz Knightsbridge, South Kensington und Chelsea zum Vergnügungsviertel gemacht, in dem noch spätnachts beinahe mediterrane Lebensfreude das Straßenbild bestimmt. Yummy Mummies (wörtlich: leckere Mütter), die ihre top-gestylten Kleinkinder wie modische Accessoires an der Hand halten, Parkwächter, die ratlos vor knallbunten Lamborghinis mit arabischen Nummernschildern stehen – der gemeine Londoner wird hier selbst zum Touristen. Die glitzernde Welt der Sloane Rangers, der blonden, perlenketten-behangenen Jeep-Fahrerinnen, bleibt auch für ihn auf etwas beunruhigende Weise unwirklich, aber deswegen ein nicht minder faszinierendes Ausflugsziel.
Dank der für Londoner Verhältnisse ungewöhnlich klugen, großzügigen Stadtplanung mit vielen Alleen und Parks bleibt hier mehr Luft zum Atmen, dazu kommt, dass Görings vom Osten einfliegende Luftwaffe es vergleichsweise selten über das Zentrum hinaus bis hierher schaffte. Die an der Themse übliche Chaos-Mischung aus alten Häusern und Beton-Monstrositäten der Nachkriegsjahre fehlt deswegen. Rote Backstein-Anlagen und viktorianische Puppenhäuser geben ein einheitliches Bild der Noblesse ab, kilometerlang, und noch darüberhinaus. Gleich nach Wimbledon fängt der Richmond Park an, das schönste, weil naturbelassenste Naherholungsgebiet der Hauptstadt, samt Rotwildherde. Aus anderen Himmelsrichtungen mögen London uncharmante Trabantenstädte auf die Pelle rücken. Der Südwesten aber bleibt bis tief ins Ländliche hinein aufreizend hübsch und verlässlich unerschwinglich.

Raphael Honigstein